Sonntag, Frühlingsanfang, um die Mittagszeit herum: Die Sonne scheint seit langem wieder und verbreitet eine frühsommerliche Stimmung. Sie erhellt den sonst eher grauen Hachmannplatz am Hamburger Hauptbahnhof. Dort,nahe des Ohnsorg-Theaters, befindet sich der Gabenzaun. Ebenda,unweit der Polizeiwache und der Taxen, treffe ich Waldi ( einen der Zaunhelfer, der kurz nach der Gründung vor etwa zwei Jahren zu einem festen Bestandteil des Teams wurde). Von der sonstigen Bahnhofshektik ist- fernab der Stoßzeiten-wenig zu spüren. Einige Menschen sitzen an der Mauer oder gehen zu dem (- wie ich später erfahre, allsonntäglich dort befindlichen) Krankenwagen der Johanniter. Waldi und ich lehnen uns gegen die Mauer und beginnen das Gespräch. Ich habe ziemlich viele Fragen und Ideen , die sich im natürlichen Fluss teilweise von selbst beantworten bzw. in der Unterhaltung auch mit den Zaungästen gelöst werden.
Zunächst erzählt Waldi von der Entstehung des Hamburger Gabenzauns, davon „wie die Stadt anfangs in Richtung Steindamm einen „unangenehm gestalteten“ Zaun errichten ließ, um Obdachlose abzuhalten. Um ihre Niederlassung durch Gitter zu verhindern. Die Gründerinnen des Hamburger Gabenzaunes, Verena („Reni“) und Sarah wollten das Rad umdrehen und einen Ort erschaffen, an dem Obdachlose sich sammeln und niederlassen können. Beutelchen mit Spenden wurden an die Gitter gehängt- Was vorerst auf den Widerstand der Stadt und der Deutschen Bahn stieß, welche die Befürchtung hatten, dass es Streit oder Verschmutzung geben könne. Nachdem die Gründerinnen jedoch hartnäckig am Ball blieben und immer wieder, trotz Absagen, Ämter und Behörden abliefen, um aufzuzeigen, dass es sich um eine tolle, soziale Sache handele und die Sorgen unbegründet seien, wurde es quasi irgendwann stillschweigend geduldet. Nach und nach wurden immer mehr Beutel mit Sachspenden an den Zaun gehängt. Als es zu einer generellen Umbaumaßnahme kam, wurde nicht aufgegeben, sondern die Frage gestellt wo der Zaun nun hinkäme. Es wurde sich auf den heutigen Platz nahe des Ohnsorg-Theaters geeinigt. Aus anfangs 20 Leuten wurden 60-100, anstelle von „Mal Vorbeischauen“ gibt es nun feste „Zaunzeiten“ (in denen auch jeweilige Helfer anzutreffen sind). Das sonntags in Hamburg herumfahrende Ärztemobil legt mittlerweile einen zusätzlichen Halt dort ein. Genau wie eine regelmäßig erscheinende Suppenküche. Ab und an kommen kleine Filmteams oder Interviewer vorbei, genau wie täglich wechselnde Passanten.“ Und so wird der Gabenzaun immer populärer. Er ist nun ein fester Bestandteil von Hamburg und ein bekannter Treffpunkt für Obdachlose, die so genannten Zaungäste.
Welche Sachspenden werden konkret benötigt? “ Man kann sich fragen, was könnte man selber gebrauchen, wenn man obdachlos wäre. Schlafsachen (da es entgegen der Vorurteile eben nicht genug Schlafplätze in Notunterkünften gibt), Zelte, Isomatten, Schlafsack, leicht zu transportierende Sachen, Lebensmittel/Konserven, Hygieneartikel, Pflegeprodukte, Kleidung (nach Jahreszeit und Geschlecht), Socken, Rasierer usw. 20 % der Zaungäste sind weiblich, somit werden auch Damenhygiene-Artikel benötigt. Bei den Lebensmitteln bedenken, welche sich auch mit wenig Besteck verzehren lassen oder z.b. wasserlöslich sind.“
Geldspenden ( welche dann wiederum für den Einkauf von akut benötigten Sachen ausgegeben werden). Hierfür gibt es dann übrigens eine Spendenquittung, da der Gabenzaun mittlerweile ein offiziell eingetragener Verein ist.
Aktive Mitarbeit als Zaunhelfer (da sich die Anzahl der Zaungäste erhöht hat, werden auch mehr Helfer benötigt): Sachen verpacken und an den Zaun anbringen, an der Essensausgabe helfen sowie sonstige Mitarbeit. Sei es druch Ideen, Unterstützung in jeglicher Form, Verbreitung, Pressearbeit – Es gibt viele Wege mitzuhelfen.
Waldi erzählt weiter: „Ich bin früher auch mal vorbeigelaufen, sah da jemanden sitzen. Da bin ich ganz ehrlich, ich habe ihm einen Euro oder ein anderes Geldstück in den Hut oder Becher geworfen und bin weitergegangen. Und dann war der Fall für mich erledigt. Heutzutage ist das nicht mehr so. Heutzutage sehe, vermute und weiß es mittlerweile auch, dass es hinter jedem Obdachlosen eine Geschichte gibt. Eine oftmals lange, sehr komplizierte und meistens nicht so schöne Lebensgeschichte. Es gibt immer Gründe warum man auf der Straße landen kann. Und auch JEDER auf der Straße landen kann. Da ist niemand gefeilt gegen, auch wenn es ihm im Moment noch so gut geht. Ein, zwei, drei Schicksalsschläge -ist bei jedem anders, jeder hat eine andere Psyche- auf einem Haufen, schon kann man gebrochen sein. Alles ist weg, die Wohnung, der Partner, die Arbeit. Schon sitzt man auf der Straße. Das kann jeden betreffen, jedes Alter, jede soziale Schicht. Wir haben bei unseren Zaungästen hier alles dabei. Total bunte Mischung von Studenten/Menschen die studiert haben/Akademikern bis hin zu Handwerkern oder Menschen die nicht gearbeitet haben( sowie Zaungäste, die jetzt auch noch nebenbei arbeiten). Es ist alles dabei.
Ganz besonders intensiv waren die ersten Zeiten meiner Arbeit. Ich bin dann nach Hause gekommen im Winter, habe mich ins Bett gekuschelt und dann dran gedacht: Mensch, den du gerade kennengelernt hast, wie mag es dem wohl jetzt gehen. Da habe ich früher nicht drüber nachgedacht. Aus den Augen, aus dem Sinn, da habe ich mir nie solche Gedanken gemacht. Bin dann am nächsten Tag wieder hin, habe mich erkundigt, Mensch,wie hast du geschlafen usw. In der Hinsicht bin ich ein anderer Mensch geworden. Weil ich damals einfach vorbeigegangen bin. Jetzt sehe ich zweimal hin.“
—> An dieser Stelle Danke für die offene Herzlichkeit, das entgegengebrachte Vertrauen, sowie teilweise Einblicke in eure ganz persönlichen Geschichten. An Andi, André, Marcel und die anderen Zaungäste, sowie an Waldi.
Meine persönliche Anmerkung: Vorurteile gibt es überall. Genauso wie Rassismus. Oftmals ist es die Angst vor dem Unbekannten, die bei Menschen für eine Hemmschwelle und das Nicht-Verlassen der Komfortzone sorgen. Dies kann man auf alle Bereiche beziehen, nicht nur auf das Leben auf der Straße. Dadurch entstehen sogenannte Randgruppen und Isolation. Je mehr man( sich selbst, andere Länder, Lebewesen, Kulturen und so weiter und so fort) kennenlernt, desto eher entwickeln sich die Ur-Instinkte und Sensibilität wieder aus. Wenn die gesellschaftlichen Rahmen wegfallen oder unerwartete Dinge (sogenannte Schicksalsschläge) passieren, geht es quasi ums pure Überleben. Was die Sinne, Instinkte sowie die Beobachtungsgabe schärfen kann. Und das Bauchgefühl stärken. Auch wer vertrauenswürdig erscheint und wer etwas vormacht. Zudem geht es auch um das Leben im Moment, Dankbarkeit und Zusammenhalt. Es wird sich wieder auf die wichtigen und essentiellen Dinge besonnen. Dies kenne ich aus eigener Erfahrung und im Gespräch mit den Zaungästen wird es mir auch von ihnen bestätigt. Apropos: Vor dem Treffen mit Waldi war ich etwa zweimal am Gabenzaun, um Bekleidung/Wintersachen, Snacks und Pflegeartikel vorbeizubringen. Sonstige Berührungspunkte gab/gibt es situativ und vereinzelt auf der Straße. Beispielsweise wenn im Restaurant die Portion zu groß für mich ist (was häufiger vorkommt), lasse ich die Hälfte einpacken und frage draußen auf dem Rückweg dann jemanden ob er sie möchte. Wenn es im Sommer heiß ist und ich einen Obdachlosen in der Sonne liegen sehe, hole ich anstelle eines Getränkes für mich, direkt zwei. Oder etwas zu essen. Easy as that. Es ist wirklich keine große Sache, sobald die Hemmschwelle weg ist und eine vermeintliche Kleinigkeit, die für jemand anderen etwas bedeuten kann. Neben der Versorgung mit Nahrung nämlich auch Zuwendung/Fürsorge. Egal worum es geht, ich unterstütze lieber im Stillen. Doch genauso wichtig ist es mir, zum Hinterfragen, Perspektivwechsel und Support anzuregen. Mit Pauschalisierungen und Schubladen-Denken aufzuhören. Weniger judgy zu sein. Versuchen sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen oder zu sagen, dass er seine Gründe für die Lage hat. Anstelle von Reduktion auf die momentane Lebens-Lage/des Status den Menschen dahinter sehen. Und gleichzeitig auf die eigenen Grenzen und das Bauchgefühl vertrauen. Eine gesunde Mischung aus Intuition, Gefühl und Verstand. Jeweils individuell entscheiden wem und in welcher Form man jemanden unterstützen kann und möchte. Die Klischees durch neue Erfahrungen ersetzen. Bei der „Sorge“, dass gespendetes Geld für Drogen oder Alkohol ausgegeben wird, kann stattdessen etwas zu Essen/Trinken angeboten werden usw. Meine persönliche Erfahrung dazu ist, dass besonders diejenigen, die viel durchgemacht haben, besonders demütig und zurückhaltend sind. Und bei denjenigen, die offensiv oder teils aggressiv fordern, etwas/jemand anderes dahinter steckt (seien es Süchte, Druck von außen o.ä.). Doch auch hier kann man das natürlich nicht pauschal sagen. So banal es klingen mag, oftmals hilft es mit gutem Beispiel voranzugehen ohne eine große Sache daraus zu machen. Generell aufmerksam und hilfsbereit durchs Leben zu gehen, andere Perspektiven einnehmen zu können, sich für (momentan)Schwächere einzusetzen und reflektiert und differenziert zu denken. Allen Lebewesen zunächst freundlich und mit Respekt zu begegnen. Auf Augenhöhe. Probieren die Komfortzone zu verlassen und erwartungsfrei eine gewisse Offenheit zu bewahren.“ Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“- Zudem ist das Wertvollste was man jemand anderem geben kann, seine Zeit, Aufmerksamkeit und Fürsorge/Wärme. Liebe ist schließlich das Wichtigste, unabhängig davon, wo man sich befindet.